Der große Glaube.

Lebensbild von Teo von Torn.
in: „Der deutsche Correspondent” vom 10.09.1899
in: „General-Anzeiger Altona” vom 17.01.1901


Es war wenige Minuten nach zwölf. Der „bürgerliche Mittagstisch” im Hochparterre hatte seine beiden Flügelthüren sperrangelweit auf die Flurtreppe zu geöffnet. Die Kassirerin zählte klingend ihre Blechmarken, und eine zweite, starkknochige, verdrossen blickende Person ordnete an den Fuchsien auf den einstmal wohl mit weißer Oelfarbe gestrichenen Fensterbrettern oder schob an den Bestecken herum, die in engster Ausnutzung der mit Wachstuch verkleideten Tischflächen bereits aufgedeckt und von unzähligen Fliegen umsummt waren. An den aufgestellten Leimpyramiden klebten sie zu Tausenden.

Es war dumpf und backofenwarm in dem ziemlich großen, aber niedrigen Raum, den die herabgelassenen Marquisen wohl verdunkelten, aber nicht abkühlen konnten.

Draußen vor der Hausthür lag die grelle Mittagssonne. Auf einem der Ecksteine räkelte sich ein barfüßiges Kind, das blinzelnd und mit blöde nachdenklichem Ausdruck auf die Straße hinabsah. Hie und da schenkte es einem Passanten flüchtige Aufmerksamkeit, einem Ziehhunde, der mit langheraushängender Zunge vor einem Handwagen trottete, einem Radfahrer oder was sonst ihm auffällig schien. Aber gleich wieder schaute es wie in zuversichtlichem Harren die Straße hinab.

Plötzlich richtete es sich auf, legte beide Hände zum Schutz über die Augen, um dann mit einem halbunterdrückten Jauchzen loszustürmen, so daß die bloßen Füßchen auf dem Pflaster ordentlich klatschten. Eine Frau blieb auf dem Trottoir stehen und fing das kleine Mädchen in ihren ausgebreiteten Armen auf.

„Ick hab' Dir jesehen, Mutterchen —, schon an der Ecke!”

„Hast mir jeseh'n, mein Süßes? Det is hibsch.”

Die Frau schob ihren Korb auf den rechten Arm und hob das Kind, welches ihr mit seinen schmutzigen Händchen in ungestümer Zärtlichkeit das feuchte Haar und die heißen Wangen streichelte, empor. Dabei war es so entsetzlich warm. Auf der Stirn des jungen Weibes perlten große Tropfen, und um Augen und Mund lag es wie tiefe Schatten von Mattigkeit und schier völliger Auflösung. Der Blick, den sie prüfend auf das glückstrahlende Gesichtchen ihres Kindes heftete, hatte die herbe Zärtlichkeit hart arbeitender Frauen.

Mit einer kurzen Bewegung drückte sie das Kind an sich.

In der Hausthür ließ die Frau es vom Arm und wischte sich mit dem Aermel den Schweiß von der Stirn.

Oben auf der Flurtreppe stand die dicke Aufwärterin des „bürgerlichen Mittagstisches”, an den Pfosten der offenen Thür gelehnt, und erwiderte den Gruß der schwer und müde steigenden Frau mit flüchtigem Kopfnicken. Der im Vorbeigehen in Kindesübermuth an ihrer Schürze zupfenden Kleinen rief sie ein mürrisches „Laß det!” nach.

„Haste iebrigens Muttern erzählt, det Du italjenschen Salat gekriegt hast?”

„Nee —”, stotterte das Kind, „det habe ick verjessen.”

„Na weeste —”

„Haben Sie vielen Dank, Fräulein Kundler,” sagte die Mutter, „so'n Kind is zu wuschlig. Haste Dir auch bedankt, Anneken?”

Während das Kind verlegen heranschlich und Händchen bot, fragte die Frau:

„Is mein Mann schon oben?”

„Nich det ick wüßte,” erwiderte die Dicke achselzuckend und mit gemachtem Gleichmuth. „Wird wohl wo sind, wo't scheen is. — Hier sein könnt' er schon. Nich?” fügte sie höhnisch hinzu.

„Wat Sie immer haben.”

„Na, un ick sage Ihnen zum hundertsten Mal: Ihr Mann jeht mit 'ner Andern!” brach sie darauf los, erregt und jedes Wort mit einem klatschenden Schlag ihres fetten Handrückens in die Linke bekräftigend.

Die junge Frau seufzte auf, aber mehr ungeduldig als verletzt. Es klang abweisend und traurig, als sie dann kopfschüttelnd sagte:

„Ick hatte mir schon so jefreit, det Sie die letzten Wochen nischt jejen meinen Mann hatten —”

Die Dicke wandte sich etwas ab und machte mit mehr Geflissentlichkeit, als sonst ihre Art war, dem eben eintretenden ersten Mittagsgaste Platz.

„— un nu fangen Se wieder an. Ick jloob's doch nich — nee — nich bis ick et sehe.”

„Det können Se haben!” rief die Aufwärterin hochroth und mit größtem Eifer. „Jehen Sie man durch den Durchgang bis in die Straße drüben un stellen Sie sich bei'n Jrünkramhändler an die Ecke. Wenn er denn kommt, können Se sehen wat Sie wollen!”

Die Frau strich sich mit der abgearbeiteten Hand langsam die Haare aus der Stirn, sah wie rathlos auf das Kind, die Treppe hinan und dann auf die Gasse. Welche widerstreitenden Empfindungen malten sich in ihrem Antlitz in diesen wenigen Sekunden des Ueberlegens!

Mit einem scheuen und bitteren Ausdruck des Vorwurfs streifte ihr Blick den breiten Rücken der Hetzerin, die sich nun zur Bedienung der Mittagsgäste abgewandt hatte.

„Komm, Anneken, laß uns noch'n Stücksken jehn. Wir sind jleich wieder da,” sagte sie leise, wie entschuldigend zu dem Kinde, nahm es bei der Hand und schritt über die Straße dem Durchgang zu.

Kein Zug von Spannung oder Erregung war in ihrem Gesichte. Eher etwas wie Mißmuth und Unwillen über sich selbst.

Drüben in der anderen Gasse schritt sie mit dem weinerlich maulenden Kinde bis an die Ecke zum Grünkramhändler. Da ertönten um die Ecke her Schritte und ein sorgloses, sonores Männerlachen.

In diesem Augenblicke wurde sie aschfahl. — Das Kind zerrte an ihrer Hand und suchte sich wie ein freudig ausgelassenes Hündchen von der Leine loszureißen. Es jauchzte auf, wie vorhin, als es nach dem langen, einsamen Vormittag die Mutter hatte kommen sehen.

„Mutter! — Det is — —” Weiter kam das Kind nicht. Die Frau erstickte den Ruf, indem sie das Köpchen der Kleinen fest an ihre Schürze preßte und wie in verzweifelter Flucht die beiden Stufen in den Keller hinunter hastete. — — —.

Ohne auch nur mit einem Blick nach der Thür zu schauen, trat sie in die dunkelste Ecke und nestelte, als wenn sie es sehr eilig hätte, in ihrer Tasche nach Geld.

„n' Bund Kohlrabi — —”

Den Kopf des Kindes hielt sie dabei fest an sich gedrückt, bis die Schritte draußen und das lachende Plaudern nicht mehr zu hören waren.

*           *           *

„Deibel noch eins — Mutter, wo steckste denn! Ick bin all lang hier.” Damit hob der immer lustige Metallarbeiter Plitzkow sein an ihm emporklimmendes Töchterchen bis an die Decke des Stübchens empor und ließ sich lachend das rußige Gesicht bepatschen. Ein sorgloses, sonores Männerlachen.

Die junge Frau hatte inzwischen ihre Taille abgelegt und hantirte mit den bloßen, wohlgeformten Armen am Herde herum.

Der Mann setzte das Kind nieder und sah ihr eine Weile lächelnd zu. Dann zwirbelte er mit den rußigen Händen seinen braunen Schnurrbart keck auf, faßte sein Weib um die Taille und küßte es auf die weiße Schulter.

Unter seinem heißen Blick schloß sie die Augen, und ein glückliches Lächeln umspielte ihren Mund. —

Dann machte sie sich los.

„Laß, Karl —” sagte sie, aber es klang wie: „Küsse mich!”

Plitzkow wandte sich, nachdem er seine Lippen noch auf ihren Mund gedrückt, ab und tobte mit dem Kinde.

„Und ick jloob's nicht,” flüsterte die Frau, das Feuer im Herde anfachend, vor sich hin, „ick jloob's nich, — bis ick et sehe — — —”

— — —